15 November 2006
«Sie schiessen auf alles, was sich bewegt»
Ein junger Palästinenser berichtet aus Beit Hanoun
von Silvia Cattori
zf. Die Schweizer Journalistin Silvia Cattori hat uns am 3. November folgenden Augenzeugenbericht eines jungen Palästinensers aus Beit Hanoun und eine Stellungnahme zukommen lassen.«Die Stadt Beit Hanoun mit ihren 30 000 Einwohnern ist schon seit dem 25. Juni Ziel täglicher Angriffe und Luftschläge. Jetzt wird sie durch israelische Bodentruppen belagert. Wir haben Panzer vorrücken sehen, die sich in Stellung begeben haben. Wir sind zurzeit von ungefähr 70 Panzern umzingelt und von wenigstens 450 Soldaten, die bekanntgegeben haben, dass die Stadt ‹geschlossene militärische Zone› sei, was heisst, dass niemand sie verlassen darf, keiner kann flüchten. Das Ganze ist eine Offensive nach dem Muster der Offensiven im Jahre 2002 im Westjordanland. Wir haben kein Wasser, keine Elektrizität. Wir verkriechen uns in die hintersten Winkel der Häuser. Den Ambulanzen ist es nicht erlaubt, in diese besetzten und geschlossenen Zonen hineinzufahren. Die Soldaten haben die Häuser umzingelt, die sie in ihre Gewalt bringen wollen. Sie haben Häuser besetzt, und sie haben die Familien in ein Zimmer gesperrt. Jetzt benützen sie die Häuser als kleine Festung. Sie durchbrechen die Mauern mit Sprengstoff, sprengen Türen heraus. Die Leute sind terrorisiert. Sie schiessen auf alles, was sich bewegt. Gestern haben sie auf Leute geschossen, die eine geschützte Stelle gesucht hatten. Menschen, die nicht bewaffnet und nicht kampfbereit waren. Sie haben ihnen in den Rücken geschossen, und als ein Verletzter flüchten wollte, haben sie ihn getötet. Menschen, die seinen Körper bergen wollten, wurden auch unter Feuer genommen. In vielen Fällen konnten die Ambulanzen den Verletzten nicht zu Hilfe kommen. Die Kinder, die der Obhut ihrer Eltern entwichen waren oder die aus den Fenstern schauten, wurden von israelischen Soldaten erschossen, die auf Dächern und Balkonen der von ihnen besetzten Häuser postiert waren. Sie haben von Bush und von den Politikern, die behaupten, Israel habe ‹das Recht, sich zu verteidigen›, grünes Licht bekommen, uns zu töten. Sie bedienen sich dabei solcher Waffen, die Tote und Verwundete schrecklich verunstalten. Die Verletzungen, die von Drohnen abgefeuerte Lenkwaffen hervorrufen, sind unheimlich. Es sind Amputationen wie mit dem Rasiermesser, Beine, Füsse, Arme – alles glatt abgeschnitten. Die Verletzungen sind ebenso schrecklich wie die durch die M-16-Gewehre. Die Soldaten haben den Befehl, auf den Oberkörper zu schiessen: Sie zielen auf die Brust, auf das Herz, auf den Kopf.Die Opfer – zur Hauptsache Zivilisten – getötet oder verletzt am Hals, an der Brust, am Kopf, zumeist, als sie in ihren Häusern waren. Sie zielen auf Leute, die vor Angst fliehen, sie zielen auf Verletzte, die sich zu retten versuchen. Wir haben das Gefühl für die Zeit verloren, wir wissen nicht mehr, wie lange wir schon in diesem Krieg gefangen sind. Man fühlt sich verloren. Sie haben Flugzeuge, die bombardieren, Drohnen, die immer bereit sind, ihre Raketen über unseren Köpfe abzuschiessen. Sie kontrollieren die ganze Zone. Mit dem Summen der Drohnen hat man das Gefühl, die ganze Zeit eine Biene im Ohr zu haben. Das ist wirklich unerträglich.Es gibt niemanden, der uns verteidigt. Wir haben keine Armee. Wir haben nur unsere Eltern, die uns verteidigen. Dabei wissen wir, dass sie dem Tode geweiht sind, uns nicht verteidigen können. Dieser neue Angriff ist schrecklich, vor allem für die kleinen Kinder, die hier sehr zahlreich sind und gezwungen, eingeschlossen zu bleiben, die terrorisiert sind und die immer schreien, wenn bombardiert wird. Immer wieder erfahren wir, dass es neue Tote gibt, dass Verletzte sich in ihrem Blut wälzen, dass die Menschen nicht wissen, wie sie die Blutungen stillen können, und dass die Ambulanzen sie nicht retten dürfen. Das Rote Kreuz müsste die Israeli verpflichten, den palästinensischen Ambulanzen uneingeschränkten Zugang zu den Verletzten zu gewähren. Die Israeli sagen, sie würden diese Offensive führen, um das Hineinbringen von Waffen über Ägypten zu verhindern. Das stimmt nicht. Nichts kann hineingelangen. Es hat in Gaza nur Gewehre, die nichts gegen die Apache-Helikopter und die Merkawa-Panzer der israelischen Armee ausrichten können. Die Kriegswaffen, die nach Gaza gekommen sind, sind die Waffen, die Israel und die Vereinigten Staaten an Dahlan geliefert haben, den Mann von Abou Mazen, dem gefürchtetsten Mann hier in Gaza. Er ist der Führer der Truppen, die seit Monaten versuchen, Unruhe zu stiften, um die Hamas-Regierung zu stürzen.Gestern haben die Soldaten über Lautsprecher alle Männer ab 15 Jahren aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Sie haben stellenweise Haus um Haus durchkämmt und Hunderte von Männern gefesselt und an einen Ort entführt, wo sie sicher gezwungen wurden, sich zu entkleiden, so wie es die Israeli im Juni in Betlaya gemacht hatten. Sie liessen die Männer in den Unterhosen stehen, was für uns Menschen aus dem Orient die unerträglichste aller Erniedrigungen ist. Besser wäre es, uns gleich zu töten. Wir vermuten, dass sie nach Beit Hanoun Betlaya attackieren werden und dann in Jabaliya machen, was sie hier machen: Haus um Haus durchkämmen. Beit Hanoun und auch Rafah sind sehr verletzliche Zonen, weil sie geographisch von anderen bewohnten Zonen getrennt, also leichter vom restlichen Gaza zu isolieren sind. Heute morgen sind die Frauen ihren Söhnen und Männern zu Hilfe geeilt, die von Panzern, die die Moschee umzingelt hatten, bedroht wurden. Die Frauen haben den Helikoptern und den Panzern die Stirn geboten. Das war für uns ein gewaltiger Augenblick. Man fühlte sich von einem Schleier der Menschlichkeit umhüllt. Das war ein sehr starker Moment, diese Frauen zu sehen, bereit, den Tod zu erleiden, um das Leben ihrer Söhne, ihrer Männer zu retten. Sie sind ohne Zögern vorwärtsgeschritten, und die Soldaten, die das nicht erwarteten, waren verwirrt. Dank dieses Überraschungseffekts ist es den Frauen gelungen, das Leben dieser Kämpfer zu retten. Sie haben gezeigt, dass die grösste Armee der Welt durch Menschen mit blossen Händen besiegt werden kann. Wir haben dies wahrgenommen als eine Botschaft an die Menschen in den arabischen Ländern, die schweigen. Diese Frauen haben durch ihre Tat gesagt: ‹Also, angesichts eurer Feigheit sind die palästinensischen Frauen ganz alleine in ihrem Kampf, ihre belagerten Männer von den Feinden der Araber, den Israeli, zu befreien.›» http://www.aljazira.it/index.php?option=content&task=view&id=738
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