19 August 2008
Washingtons neuer Kalter Krieg – und Russlands Antwort
von F. William Engdahl
Nachdem die Bush-Administration bilaterale Abkommen zum Verbot Anti-Ballistischer Raketen (ABM) aufgekündigt hat, die sie mit Russland am Ende des Kalten Krieges abgeschlossen hatte, nachdem die USA mit Nachdruck darauf drängen, die Ukraine und Georgien in die NATO einzugliedern, und nachdem Washington sich geweigert hat, seine provokanten Pläne für die Stationierung eines ABM-Raketenschilds in Polen und der Tschechischen Republik aufzugeben, sollte es niemanden überraschen, dass Russland auf diese Entwicklungen mit einer Verstärkung und Modernisierung seines eigenen Streitkräftepotenzials reagiert. Der Irrsinn der ursprünglich von Rumsfeld und Cheney ausgeklügelten Verteidigungsstrategie »Full Spectrum Dominance«, zu deutsch »Dominanz über das volle Konfliktspektrum«, wird nun offensichtlich und hat dazu geführt, dass die Welt erneut am Rande eines Atomkriegs steht – und sei es auch nur aufgrund einer strategischen Fehleinschätzung. Diese Realität stellt im Moment die größte Bedrohung für Weltfrieden und Wohlstand dar – doch sie wird praktisch totgeschwiegen. Warum sind unsere Politiker und Medien so wortkarg, wenn es um diese weltpolitisch hochbrisante Situation geht?
Als der Kalte Krieg im November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer – auf Anweisung des letzten politischen Staatschefs der Sowjetunion, Michail Gorbatschow – endete, ging ein Großteil der Welt davon aus, dass wir am Beginn einer neuen Ära friedlicher Wirtschaftskooperation mit dem ehemaligen Gegner Westeuropas stünden. Der Warschauer Pakt, die Militärallianz der UdSSR und ihrer osteuropäischen »Satelliten«staaten, wurde aufgelöst. Die Sowjetunion selbst zerfiel in ein Chaos aus Republiken, die ihrerseits ihre jeweilige Unabhängigkeit erklärten. Russland wurde von Harvard-Ökonomen wie Jeffrey Sachs und dem von den USA kontrollierten Weltwährungsfonds (IWF) »beraten«. Sie forderten eine umgehende »Schocktherapie«: radikale Wirtschaftsreformen, um alles sofort zu privatisieren und die Wirtschaft dem Ausland gegenüber zu öffnen – was zu nichts anderem führte als den berüchtigten Beutezügen und unverhohlenen Plünderungen durch westliches Kapital.
In dieser Zeit nach 1990, als Russland in der Jelzin-Ära um sein Überleben als Nation kämpfte, ging Washington daran, seine nuklearen Erstschlagskapazitäten weiter zu modernisieren und insgeheim das kontroverse – und von der Bezeichnung her irreführende – »Anti-Missile Defense«-System (AMD), zu deutsch »Raketenabwehrsystem« voranzutreiben. In meinem Buch Apokalypse jetzt! beschreibe ich detailliert, dass das AMD alles andere als ein Abwehrsystem ist. In Wahrheit stellt das AMD in militärischen Begriffen so ziemlich das offensiv-aggressivste Waffensystem dar, das man sich vorstellen kann: Es ist das »Missing Link«, das fehlende Bindeglied, nach dem die Planungsstrategen des Pentagon seit den 1950er-Jahren gesucht hatten: die atomare Vormachtstellung der USA mit der Fähigkeit, einen nuklearen Erstschlag gegen Russland und China führen zu können, ohne einen Gegenschlag fürchten zu müssen.Trotz wiederholter Proteste und Alternativvorschläge von Ex-Präsident Putin an die Adresse Washingtons, etwa die Errichtung einer gemeinsamen Raketenabwehrstellung in Aserbaidschan, wo es bereits eine russische Radarstellung gibt, um »mögliche iranische Nuklearschläge abzuwehren« – so die öffentliche Begründung der Bush-Administration für ihr aggressives Vorgehen –, hat Washington bisher jeden Kompromiss in dieser Richtung kategorisch abgelehnt und in klassischer Joseph-Goebbels-Manier einfach so oft die Lüge wiederholt, dass »Russland paranoid und zur früheren kommunistischen Geisteshaltung zurückgekehrt« sei, die für den Kalten Krieg charakteristisch war, dass die meisten leichtgläubigen Menschen des kapitalistischen Westens zu der Ansicht verleitet wurden, das einzige Problem hier sei Russlands Unnachgiebigkeit.
Washington weitet ABM-Gespräche auf andere Nachbarstaaten Russlands aus
In der Zwischenzeit hat Washington mehr oder weniger im Stillen seine ABM-Gespräche auf andere Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts oder der Sowjetunion an den Grenzen Russlands ausgeweitet – zur Errichtung weiterer Raketenabwehrstellungen neben denen, die bereits in der Tschechischen Republik und in Polen geplant sind. Kürzlich wurde berichtet, dass Washington sich bereits in Gesprächen mit Litauen befindet, um Teile des US-Raketenschilds dort zu installieren – für den Fall, dass Warschau den Vorschlag der USA zum Bau einer Stellung für zehn »Abfang«raketen ablehnen sollte. General a.D. Leonid Iwaschow, der Präsident der Akademie für Geopolitik in Moskau, sagt dazu: »Wir sollten davon ausgehen, dass Teile des US-amerikanischen Raketenschilds nicht nur in Litauen, sondern in allen Regionen errichtet werden, die unmittelbar an Russland angrenzen und von der NATO kontrolliert werden.«
Die Tschechische Republik hat der Errichtung einer US-amerikanischen AMD-Radaranlage bereits zugestimmt. Polen verlangt von den USA Hilfe bei der Modernisierung der landeseigenen Streitkräfte als Gegenleistung dafür, dass Polen in einem möglichen Atomkrieg zwischen Ost und West de facto ein strategisches Ziel allerhöchster Priorität sein wird.
Iwaschow glaubt, dass das Ziel des US-Raketenabwehrprogramms die vollständige Neutralisierung des russischen Nuklearpotenzials bis 2012, spätestens 2015 sei, und dass diese seit 1990 konstant vorangetriebene Ausweitung der NATO nach Osten ein wesentlicher Bestandteil dieses Plans war. Der von den USA ausgeübte Druck, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen – und dies vielleicht schon beim NATO-Außenministertreffen in Brüssel im Dezember 2008 –, hätte für Russland schwerwiegende strategische Implikationen. Es würde nämlich bedeuten, dass Russland innerhalb weniger Monate US-amerikanischen Nuklearschlägen schutzlos ausgeliefert wäre. Iwaschow erklärte: »Es besteht kein Zweifel daran, dass Teile des US-Raketenschilds in Georgien und der Ukraine stationiert werden, sobald beide Länder der NATO beigetreten sind«, und fügte hinzu, dass die Ukraine bereits Radarstellungen in Mukatschewo und Sewastopol betreibt, die gegen Russland eingesetzt werden könnten.
»Die USA wollen einen undurchdringlichen Raketenschild errichten, mit dem sie imstande sind, russische Atomraketen zu jedem Zeitpunkt abzufangen und außer Gefecht zu setzen – sei es auf der Abschussrampe, nach dem Start, im Orbit oder vor Erreichen des Ziels«, fügte er hinzu.
Der russische Strategieexperte verwies auf die reale Situation in sachlich-nüchterner Manier. Damit deutschsprachige Leser wenigstens ansatzweise nachvollziehen können, was dieser Raketenschild und die Strategie hinter ihm für die Zukunft des Friedens auf dem europäischen Kontinent bedeutet, hier nochmal Iwaschows Einschätzung etwas ausführlicher: »Russland muss nun auch die Länder Europas warnen, dass – im Falle einer potenziellen militärischen Konfrontation – die großen Städte als auch Industrie- und Kommunikationszentren derjenigen Länder, die Teile des US-amerikanischen Raketenschilds innerhalb ihrer Grenzen beherbergen, unweigerlich zu Primärzielen russischer Nuklearschläge werden.«
Moskau hat nicht nur umfangreiche Investitionen in den Ausbau seines Nukleararsenals und seiner militärischen Schlagkraft getätigt, sondern auch eine allgemeine umfassende Modernisierung seiner Streitkräfte vorgenommen, um auf die NATO-Einkreisungsstrategie der USA zu reagieren. Erst kürzlich hat Russland erfolgreich eine Proton-K/DM-2-Trägerrakete mit einem militärischen Satelliten der Kosmos-Baureihe vom Raumfahrtzentrum Baikonur in Kasachstan aus ins All geschickt. »Das Ziel dieser Operation ist eine Verstärkung der Satellitenüberwachung aus dem Orbit durch Hinzufügung weiterer militärischer Satelliten, um das Frühwarn- und Verteidigungssystem auf den neuesten Stand zu bringen«, sagte Oberst Alexej Kusnezow. Berichten zufolge unterhält Russland ein strategisches Netzwerk von etwa 60 bis 70 Aufklärungssatelliten
. Dies ist die Realität hinter dem Beschluss, Medwedew und Putin als doppelte Führungsspitze des Landes einzusetzen: Es geht darum, Russland mit Augenmaß, aber auch mit Erfahrung und Weitblick durch die kommende heiße Phase der Konfrontation mit der NATO und den USA hindurchzuführen, denn nie war die Gefahr eines Atomkriegs aufgrund einer strategischen Fehleinschätzung so groß wie heute. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Sollten Sie diesen Ausführungen skeptisch gegenüberstehen, dann nehmen Sie sich bitte die Zeit, das Buch Apokalypse jetzt! jetzt! vollständig durchzulesen.
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Mit der irreführenden Propaganda um die »Europäische Sicherheit« bringen die USA die Welt an den Rand eines Atomkriegs aufgrund einer strategischen Fehleinschätzung.
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