24 Oktober 2012

Hagedisen, weise Frauen oder Hexen???

Wenn heute in irgendeinem Zusammenhang von Hexen geredet wird, so hat man automatisch das ausschließlich negative Bild vor Augen, das uns von Kindheit an durch Märchen, Schule und natürlich durch die Kirche systematisch vermittelt wurde:
Hexen waren demnach bösartige alte Weiber, die es einzig und allein darauf abgesehen hatten, mittels Zauberei und in Verbindung mit dem »Teufel« ihrer Umwelt bzw. anderen Menschen Schaden zuzufügen. Dies taten sie nicht nur mithilfe von allen möglichen - meist pflanzlichen - Giften, sondern auch mit diversen Zaubersprüchen und sonstiger »Zauberei«.
Festgeschrieben sind solche Vorurteile in den gängigen Märchen und Sagen, und kaum jemand hat sich die Mühe gemacht, diese pauschale Verurteilung zu widerlegen.

 

Doch in unserer heutigen Zeit - die oftmals als »aufgeklärt« bezeichnet wird, obwohl sie es mitnichten ist - rührt sich doch so mancher Widerspruch gegen solcherart pauschale Vorurteile. Es finden sich immer wieder Menschen, die sich die Mühe machen und hinter die Fassaden solcher Vorurteile schauen, wobei sich oft genug herausstellt, dass diese Vorurteile grundfalsch sind. So auch bei der »bösen« Hexe.
Dass hier im Laufe von Jahrhunderten nicht nur ein ganzer Berufsstand verunglimpft wurde - ebenso, wie es mit dem Teufel gemacht wurde -, sondern auch unzählige völlig unschuldige Frauen (und Männer: als Hexer bzw. Hexenmeister) auf grausame Art und Weise ermordet worden sind, obwohl sie mit der »Hexerei« oft genug überhaupt nichts zu tun hatten, muss zumindest einmal nachdenklich machen. Obwohl es sich hier um ein millionenfaches Verbrechen handelte, das letztlich - leider muss es gesagt sein - »im Namen Gottes und der Gerechtigkeit« durch die christliche Kirche initiiert wurde, sitzt immer noch in den Köpfen mancher Menschen die Meinung, dass es ja zwar Unrecht gewesen sei, diese ungeheure Menge an Unschuldigen umzubringen, dass aber die Kirche bei den »richtigen« Hexen trotz allem ein gewisses Recht gehabt habe, weil diese doch nur »ihren Mitmenschen Schaden« zugefügt hätten. Wie ist es sonst erklärbar, dass heute noch Millionen von Gläubigen regelmäßig in eine solche Kirche gehen, die es bis heute nicht für nötig befunden hat, wenn schon keine Wiedergutmachung zu leisten - das ist wohl kaum noch möglich -, dann wenigstens die Schuld einzugestehen und die unschuldigen Opfer zu rehabilitieren?

Hexen gab es immer, es gibt sie auch heute noch. Aber das Vorurteil der »bösen alten Frau« sollten wir doch schnellstens vergessen. Es traf weder früher noch heute zu, obwohl es nicht auszuschließen ist, dass es hier und dort »schwarze Schafe« gab und gibt. Diese findet man jedoch überall.
Doch selbst heute noch wird der Begriff der Hexe in unseren Lexika ausschließlich negativ definiert. Wurden die negativen Unterstellungen früher von der Kirche und ihren Vertretern vorgenommen, so wird heute der »Volksglaube« vorgeschoben. Mit diesem Mäntelchen lässt es sich wunderbar kaschieren, dass dieser »Volksglaube« sich ja nicht von selbst entwickelt hat, sondern dass er kirchlicherseits angestiftet und der Bevölkerung aufoktroyiert wurde. Die Schuld an den Massenmorden ist damit abgeschoben. Es entsteht zwangsläufig der Eindruck, es sei der »Volksglaube« gewesen, der die Obrigkeit zu einer Reaktion gegen diese »bösen Hexen« gezwungen habe. Schauen wir einmal ins Lexikon, dort steht heute noch:

»Hexen, dem Volksglauben nach zauberkundige Frauen mit magisch-schädigenden Kräften. Der Hexenbegriff des Mittelalters resultiert aus der Verbindung ursprünglich nicht zusammengehörender Elemente des Zauber- und Aberglaubens (Luftflug, Tierverwandlung, Schadenzauber) mit Lehren der Dämonologie und Straftatbeständen der Ketzerinquisition. - Voraussetzung für die Hexenverfolgung ist der Hexenwahn. Er hat sich in drei Perioden ausgebildet:
Von 400 bis 1230 wurde an die Realität von Hexerei noch nicht allgemein geglaubt. Die 2. Periode, 1230-1430, ist durch die pseudowissenschaftliche Untermauerung des Dämonen- und Zauberglaubens - u.a. durch die Scholastik - bestimmt, die einen besonderen Verbrechensbegriff, die Hexerei (maleficium), entwickelte. In die 3. Periode, 1430-1540, fällt der eigtl. Beginn der großangelegten und systematisch betriebenen Hexenverfolgung. Das unmenschlich grausame Vorgehen gegen der Hexerei bezichtigte Frauen wurde durch Papst Innozenz VIII. 1484 eingeleitet. Abschluss der Hexen- und Zaubertheorie bildete der 1487 von päpstlichen Inquisitoren verfasste Hexenhammer, das für die Gerichtspraxis maßgebliche Gesetzbuch. Als verfahrensrechtliche Neuerungen wurden eingeführt die Denunziation anstelle der Anklage und im Beweisverfahren die Anwendung der Folter und Hexenprobe (als Mittel zur Erkennung von Hexen, z. B. durch Wasserprobe [Hexenbad], bei der die Frau ertrinken musste, sofern sie unschuldig war). Ihren Höhepunkt erreichten die Hexenprozesse zwischen 1590 und 1630.« (Meyers Lexikon, 1993).

 

Der Schimpfname »Hexe« entwickelte sich aus »Hagedise« (es gibt verschiedene Schreibweisen) über Hage-Diesse, Hag´sche, Hägse zu Hexe.
Hagedisen (Hagediessen) waren die weisen Frauen des Mittelalters. Sie kannten sich aus in Kräuterkunde, Gynäkologie, Geburtenkontrolle usw. Sie übten die Funktion der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung aus. Ihre Tradition und das alte Wissen schöpften sie mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Wissen der ehemaligen Druidissinnen, die ja - zusammen mit den Druiden - bereits von der Kirche ausgerottet waren.
Ihre Kräuter fanden sie im Hag (Hagen). Das ist eine Trockenrasen-Kultur und war ehemals ein Tabu-Gebiet (Ödland, »Unland«), denn es war für den Anbau von Nutzpflanzen nicht geeignet. Es war jedoch der ideale Standort für Heilpflanzen.
Die Hagedisen waren der aufkommenden christlichen Kirche ein Dorn im Auge, weil sie die alleinige Macht über die Menschen ausüben wollte.
So versuchte die Kirche die Heilkräuter in ihren Klostergärten anzubauen. Wegen des fehlenden Wissens um die richtigen Standorte der Kräuter (wo sie die größte Wirksamkeit erreichen) hatten die angebauten, »kultivierten« Heilkräuter nicht die Wirkung der »Hexen-Kräuter«. Dies nahm die Kirche zum Anlass, den weisen Frauen zu unterstellen, sie würden mit Zauberei arbeiten, ein damals todeswürdiges Verbrechen.
Die Verfolgung der »Hexen« artete bald in einen Wahnsinn aus. In einem Holocaust unvorstellbarer Dimensionen wurden Millionen Unschuldiger (Frauen als Hexen und Männer als Hexenmeister) ermordet. Eine Anklage war bereits das Todesurteil, denn eine Verteidigung war für das Opfer unmöglich. Ein Inquisitionsprozess verlief ausnahmslos mit schlimmsten Folterungen ab, ehe das gequälte Opfer dann auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Diese Massenvernichtung hatte mit den weisen Frauen aus dem Hag kaum noch etwas zu tun, weil jeder von jedem angeklagt werden konnte.

Im August dieses Jahres (1995) wird in Schongau (Bayern) wieder das historische Schauspiel »Die Hexe von Schongau« aufgeführt, mit riesigem Erfolg, das an den großen Schongauer Hexenprozess von 1589 bis 1592 erinnern soll. Eineinhalb Wochen lang findet diese Aufführung tagtäglich statt: die Leidensgeschichte der Agnes Weiß, die seinerzeit der Hexerei angeklagt war und - das ist verbürgt und wird auch realistisch dargestellt - nach peinlichen Verhören schließlich öffentlich verbrannt wurde.
Dass diese Grausamkeiten damals in dieser Art geschahen, ist schlimm. Dass solche tiefgreifenden Ungerechtigkeiten, grausamsten Folterungen und unmenschlichen Morde jedoch kein Einzelfall waren, sondern an Millionen unschuldiger Frauen (und Männern) begangen wurden - das interessiert bei diesem »Volksstück« leider nur am Rande.
Ich habe noch von keiner einzigen Trauerveranstaltung für diese ermordeten Menschen gehört, geschweige denn von einem Mahnmal für diese Opfer. Auch hat es der Papst bis zum heutigen Tage nicht für nötig befunden, für diese Untaten namens der Kirche Abbitte zu leisten.

Es wird Zeit, dass wir gewaltig umdenken!
Es ist nicht damit getan, dass sich in unserer Zeit sogenannte »neue Hexen« finden, die irgendwelchen ominösen Riten anhängen, bei Vollmondnächten ihre Orgien feiern und sich dann einbilden, sie würden die Tradition der weisen Frauen fortsetzen. Es ist geradezu lächerlich, wenn solche »Neuhexen« versuchen, alte Zauberformeln zu zelebrieren, die sie nicht verstehen und die nicht im richtigen Zusammenhang stehen, weil sie nicht original sind, sondern aus Überlieferungen bestehen, die unter irgendwelchen Foltern erpresst wurden.
Wenn sich heutzutage Menschen als Hexen bezeichnen und unter der Bezeichnung Wicca o.ä. versuchen, alte Kulte wiederaufleben zu lassen, so muss dieses Tun zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sein.
Ganz ähnlich sind die sogenannten Satans-Sekten einzuordnen. Sie sind nichts anderes als abartige Auswüchse. Es sind verständliche - wenn auch nicht gutzuheißende - Reaktionen auf eine jahrhundertelange Glaubensknechtschaft. Mit einer Tradition hat es allerdings nichts zu tun, wenn hier (suchende!, denn das sind sie letztendlich) Menschen höchst gefährliche Praktiken zelebrieren.
In der Tradition der weisen Frauen stehen heute allein diejenigen Menschen, die in Heilberufen tätig sind und dabei ihre mentalen (»magischen«) Fähigkeiten zum Wohl der Menschen einsetzen. Sie haben das Wissen um die Zusammenhänge der Natur wiederentdeckt und wenden es praktisch an, doch so manche(r) von ihnen wäre froh, hätte er das alte Wissen der weisen Frauen - der »Hexen« - heute noch zur Verfügung. Diese Menschen (Frauen wie auch Männer) haben es nicht nötig, mit ihren Erkenntnissen zu prahlen und anzugeben, und sie tun es auch nicht. Sie haben es auch nicht nötig, ihre Fähigkeiten in einer Show aufzuziehen oder irgendwelche Geisterbeschwörungen zu verrichten, die sie wegen des fehlenden alten Wissens - aufgrund der jahrhundertelangen Ausrottung der Wissenden - doch nur falsch ausüben würden (man denke an Wolfgang von Goethe mit seinem »Zauberlehrling«!). Diejenigen, die ihre Fähigkeiten mithilfe einer Show vermarkten, um den Leuten damit das Geld aus der Tasche zu ziehen, das sind die heutigen schwarzen Schafe.
Aber die Menschen, die eine (wieder neuentdeckte) Naturheilung praktizieren - gegen die sich die Pharma-Industrie und die Schulmedizin (wen wundert das?) vehement wehren -, das sind die wahren Nachfolger der weisen Frauen.

Begleitend zu der Aufführung in Schongau findet in diesem Jahr im Stadtmuseum Schongau die Ausstellung »Der Fliegenpilz: Hexendroge, Zauberpflanze, Glückssymbol« statt. Hierzu hat der EFODON e.V. wieder - wie zu der Ausstellung im vorigen Jahr - einen Raum gestaltet. Er zeigt zwei Hagediessen an einer Quelle im Hagen. Es ist unser Beitrag für ein neues Verständnis der »verteufelten« weisen Frauen.

 

 

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