10 Oktober 2007

Afghanistan: Ein Kriegsmandat außer Kontrolle


von KNUT MELLENTHIN:

Am Freitag, dem 12. Oktober, wird der deutsche Bundestag voraussichtlich mit großer Mehrheit das Mandat für die deutsche Beteiligung an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) um ein weiteres Jahr verlängern. Teil dieses Mandats wird dann auch der vom Bundestag am 9. März dieses Jahres gesondert gebilligte Einsatz von sechs Tornado-RECCE-Aufklärungsflugzeugen sein. Die von ihnen produzierten Luftaufnahmen stehen nicht nur der ISAF zur Verfügung, sondern dürfen laut Mandat auch an die außerhalb des NATO-Kommandos operierenden US-amerikanischen Truppen der OEF (Operation Enduring Freedom) weitergegeben werden. Die scheinbare Einschränkung - „...nur, wenn dies zur erfolgreichen Durchführung der ISAF-Operationen oder für die Sicherheit von ISAF-Kräften erforderlich ist“ – ist praktisch wertlos, da sich dies von der Sache her jeder Überprüfbarkeit durch Parlament und Öffentlichkeit entzieht. Wichtig ist hingegen die klare Aussage des Bundestagsbeschlusses, daß der Einsatz der deutschen Tornados „der Steigerung der Effizienz der ISAF Stabilisierungs- und Sicherheitsoperationen“, also der Aufstandsbekämpfung, dienen soll.

Betrachtet man die Entwicklung des deutschen Afghanistan-Mandats seit dem ersten Bundestagsbeschluss im Dezember 2001, so sind vor allem drei Dinge festzustellen.
Erstens: Die Zahl der eingesetzten Soldaten wurde seither verdreifacht.
Zweitens: Der potentielle Einsatzraum der Bundeswehr wurde von der Hauptstadt Kabul auf das gesamte Land, einschließlich der Hauptkampfgebiete, ausgeweitet. (1)
Drittens: Es gibt in dem derzeit gültigen und zur Verlängerung anstehenden Mandat keine Klausel, die explizit eine Mitwirkung deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen ausschließt.

Unterstellt man, daß hinter dem Prozess der schrittweisen quantitativen und qualitativen Mandatsausdehnung politisches Kalkül und Planung stehen, so bleibt als wahrscheinlichste Schlußfolgerung: Bundesregierung und Bundestagsmehrheit arbeiten zusammen, um Deutschland nach der Salami-Taktik immer tiefer in einen Krieg zu verstricken, den die Mehrheit der Bevölkerung nicht will. (2) Eine alternative, aber weniger wahrscheinliche Hypothese ist, daß sich Deutschlands führende Politiker einer eskalierenden Entwicklung ausgeliefert haben, die sich weitestgehend, wenn nicht sogar vollständig, ihrer politischen Einflußnahme, geschweige denn ihrer Kontrolle, entzieht. Die Wahrheit dürfte in einer Mischung aus beidem bestehen.

Der erste Beschluss des Bundestages über die Beteiligung an der ISAF wurde am 22. Dezember 2001 mit 538 gegen 35 Stimmen, bei 8 Enthaltungen, verabschiedet. 30 der Nein-Stimmen kamen von der PDS. Kein einziger Grünen-Abgeordneter stimmte gegen den Antrag. (3) Als Aufgabe wurde im Wesentlichen die „Unterstützung“ der afghanischen Staatsorgane „bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung“ definiert. Die Obergrenze des deutschen Kontingents wurde auf 1.200 Soldaten festgelegt. Das Mandat galt zunächst nur für ein halbes Jahr und wurde am 14. Juni 2002 mit geringfügigen Veränderungen (4) um weitere sechs Monate verlängert.

Am 20. Dezember 2002 verlängerte der Bundestag das Mandat erstmals um ein ganzes Jahr. Gleichzeitig wurde die Obergrenze auf 2.500 Mann heraufgesetzt, also auf mehr als das Doppelte erhöht. Das wurde damit begründet, daß Deutschland ab Jahresanfang 2003 zusammen mit den Niederlanden vorübergehend die „Leitfunktion für ISAF“ übernehmen sollte. Allein für die sich daraus ergebenden Aufgaben sollten 1.000 deutsche Soldaten zur Verfügung stehen. Der Einsatzraum der Bundeswehr blieb auf „Kabul und Umgebung“ beschränkt. Die Resolution wurde mit 565 gegen 9 Stimmen, bei 2 Enthaltungen, verabschiedet. (5) Erstmals war die PDS im Bundestag nur noch mit zwei Abgeordneten vertreten.

Mit dem Bundestagsbeschluss vom 24. Oktober 2003 erfolgte eine grundlegende Veränderung des Mandats: Neben dem Einsatz in „Kabul und Umgebung“ übernahm die Bundesregierung die Verantwortung für die nordafghanische Region Kunduz, zu der vier Provinzen gehören. Das war der erste Schritt zu einer von der NATO geplanten Ausweitung der ISAF auf ganz Afghanistan. (6) Die von Deutschland übernommene Region wird überwiegend von Tadschiken und Usbeken bewohnt, stand während des gesamten Bürgerkriegs unter Kontrolle der Taliban-feindlichen Nordallianz und ist bis heute kein Aufstandsgebiet, auch wenn es vereinzelt zu Anschlägen kommt.
De Obergrenze wurde in dem neuen Mandat leicht abgesenkt von bisher 2.500 auf 2.250 Soldaten, von denen 450 in Kunduz eingesetzt werden sollten. Neben 531 Ja-Stimmen gab es diesmal 57 Nein-Voten: neben den zwei PDS-Abgeordneten hauptsächlich von der FDP, die gegen die Ausdehnung des Einsatzgebietes Bedenken erhob. (7)

Das Jahr 2004 brachte keine wesentliche Veränderung des Mandats. Die FDP-Fraktion stimmte erneut mit Nein. (8)

Den bisher wichtigsten qualitativen Sprung in der Entwicklung des Mandats gab es mit dem Bundestagsbeschluss vom 28. September 2005. Er erlaubt, Bundeswehrsoldaten in allen Teilen Afghanistans, auch in den Hauptkampfgebieten des Südens und Ostens, „für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen“ einzusetzen, „sofern diese Unterstützungsmaßnahmen zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags unabweisbar sind.“ Die Resolution definierte zugleich, um was es sich dabei in erster Linie handeln soll: „Dies gilt insbesondere mit Blick auf die den gesamten ISAF-Verantwortungsbereich abdeckende Führungs- und Kommunikationsstruktur sowie Logistik, Sanitätsversorgung, Nachrichtengewinnung und Aufklärung.“

Das Stichwort „Aufklärung“ deutet darauf hin, dass der Tornado-Einsatz schon im September 2005 ins Auge gefasst war. Darüber hinaus erfährt man gelegentlich beiläufig, daß die Bundeswehr seit Monaten die Aufstandsbekämpfung in Südafghanistan durch Transportflüge und Fernmeldesoldaten unterstützt. (9) Aber hat man je vernommen, daß die Bundesregierung dem Parlament, geschweige denn der deutschen Öffentlichkeit, die jeweils konkrete „Unabweisbarkeit“ dieser Einsätze dargelegt hat? Freilich wird der Regierung ihr Schweigen durch Abgeordnete und Mainstream-Medien, die sie mit Fragen verschonen, sehr leicht gemacht.

Erstaunlicherweise wurde der Antrag zu dieser Zäsur in der Entwicklung des deutschen ISAF-Mandats am 28. September 2005 mit riesiger Mehrheit, in rasanter Geschwindigkeit und ohne ernsthafte Diskussion im Bundestag durchgewunken. Auch die FDP-Fraktion war plötzlich wieder dafür. Es gab nur 14 Nein-Stimmen: Neben den PDS-Abgeordneten Gesine Lötzsch und Petra Pau lehnten drei Unionsparlamentarier, fünf von der FDP und genau ein SPD-Mann den Antrag ab. Aus der Fraktion der Grünen, die vor Jahren unter dem Motto „Gewaltfrei“ angetreten waren, konnten sich nur zwei Abgeordnete zu einem Nein durchringen: Winfried Hermann und Hans-Christian Ströbele. Die vierzehnte Gegenstimme kam von dem fraktionslosen Abgeordneten Martin Hohmann, ehemals CDU. (10)

Bleibt zu ergänzen, dass mit dem Bundestagsbeschluss vom 28. September 2005 die Obergrenze des deutschen Kontingents auf 3.000 Mann angehoben wurde. Das Mandat blieb 2006 im Wesentlichen unverändert. Mit der Entscheidung des Bundestags für den Einsatz von sechs Tornado-Aufklärungsflugzeugen am 9. März 2007 wurde die Obergrenze auf 3.500 Soldaten angehoben.

Es ist zu befürchten, dass sich hinsichtlich Afghanistans nicht nur die Bundesregierung, sondern auch eine große Mehrheit des Bundestags in einer unkontrollierbaren, irreparablen Logik des militärischen „Endsiegs“ und der verabsolutierten „Bündnistreue“ befindet, die eine Abkoppelung von der Kriegsstrategie der USA grundsätzlich nicht mehr zuläßt. Hierzu folgende Thesen:

1. Afghanistan ist kein isolierter Schauplatz, wo es um die „militärische Absicherung“ von „Aufbauhilfe“ geht, sondern Glied in einer Kette eskalierender us-amerikanischer Kriegsführung, die sich tendenziell auf den gesamten Raum zwischen dem Ostrand des Mittelmeers und den Grenzen Chinas und Indiens erstreckt.

2. Deutschland kann sich auf Dauer nicht der Forderung seiner NATO-Verbündeten entziehen, Soldaten für eine direkte Teilnahme an Kampfeinsätzen in den am meisten umkämpften afghanischen Landesteilen im Süden und Osten bereit zu stellen. Außerdem zeichnet sich ab, dass der bewaffnete Widerstand auch auf den Norden überzugreifen beginnt.

3. Westpakistan hat sich zum Hinterland des afghanischen Widerstandes entwickelt. Eine Ausweitung des Krieges auf Pakistan ist deshalb nicht nur naheliegend, sondern geradezu zwangsläufig. (11)

4. Sollten die USA eine militärische Konfrontation mit dem Iran beginnen, wird Afghanistan zum Hinterland dieses Krieges und zum Schauplatz iranischer Reaktionen werden. Damit wäre Deutschland in diesen Krieg von vornherein verwickelt, ohne noch irgendeine Entscheidungsfreiheit zu haben.
  • Quelle

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